Gemeinsam mit meinem Kollegen Rapha Breyer bin ich im September 2021 nach Indien gereist, um dort Fairtrade-Textilfabriken in Karnataka, Tamil Nadu und Gujarat zu besuchen. Wie es den Arbeiter*innen inmitten der Corona-Pandemie geht und wie sie die vergangenen Monate erlebt haben, erzähle ich im ersten Blogbeitrag. Im zweiten Teil erfährst du, wieso Frauen in Indien noch immer an vielen Stellen benachteiligt werden, und wieso die Textilindustrie dennoch Fortschritte macht.

Obwohl Frauen in Indien zumindest auf dem Papier mehr Rechte haben als in anderen Teilen der Welt, kann von Gleichberechtigung keine Rede sein. Das Verheiraten junger Frauen ist in dem südasiatischen Land normal – Schätzungen zufolge werden etwa 80 bis 90 Prozent der Ehen arrangiert. Auch die Tradition der Mitgift, die seit 1961 per Gesetz verboten ist, ist noch immer weit verbreitet. Mit „Sumangali“ gibt es sogar einen eigenen Begriff dafür, dass Frauen ihre Mitgift selbst erarbeiten.

Sumangali – Ausbeutung als Geschäftsmodell

Viele Jahre lang war „Sumangali“ ein gängiges Beschäftigungsmodell, gerade in Spinnereien, wo, anders als in Nähfabriken, auch ungelernte Arbeitskräfte gebraucht werden. Unwissend und in finanzieller Not schlossen Eltern gleich mehrjährige Arbeitsverträge für die Töchter ab, bei denen ein großer Teil der Entlohnung erst nach Ende des Vertrages gezahlt wurde. Während die Spinnereien versprachen, die Mädchen auszubilden und bis zu ihrer Heirat auf sie Acht zu geben, fristeten diese oft eine Art Sklavendasein, eingesperrt und abgeschottet von der Außenwelt. Wer vor Vertragende ging, erhielt oft keinen Cent.

„Niemand will heute noch Garn aus Sklavenarbeit“

Auch heute noch arbeiten vorwiegend junge Frauen in Indiens Spinnereien, um Geld für eine mögliche Heirat zu verdienen. Die meisten von ihnen stammen aus ärmlichen Verhältnissen, aus landwirtschaftlich geprägten Regionen wie Odisha im Nordosten des Landes. Die Abhängigkeit ist heute allerdings eine andere: So gibt es etwa gesetzliche Regelungen, die Kinderarbeit verbieten. Laut Gesetz müssen Arbeiter*innen mindestens fünfzehn Jahre alt sein, laut Fairtrade-Textilstandard sogar sechzehn. Zudem hat die öffentliche Kritik an der Ausbeutung junger Frauen und Mädchen den Druck auf die Industrie erhöht. Niemand will schließlich Garn aus Sklavenarbeit in seinen Textilien wissen. Viele Spinnereien haben seither nachgebessert und Arbeitsbedingungen sowie Löhne angepasst.

85 Prozent der Beschäftigten sind weiblich

Angesichts der Geschichte wundert es nicht, dass bei Armstrong Spinnig Mills, einer Spinnerei im indischen Tiruppur, die wir besuchen, fast ausschließlich Frauen arbeiten: Rund 85 Prozent der Beschäftigten sind weiblich. Auf der Homepage wirbt das Unternehmen explizit mit „Women Empowerment“. Im Gegensatz zu Männern haben Frauen in Indien allerdings häufig auch den Ruf, die einfacheren Arbeitnehmerinnen zu sein – quasi per Sozialisation. „Viele sind dazu erzogen worden, weniger Wiederworte zu geben“, gibt mein Fairtrade-Kollege Rapha Breyer zu bedenken, während wir über das Fabrikgelände laufen. „Und trotzdem schließt das die Stärkung der Frauen ja nicht aus.“ Über das Fairtrade-Textilprogramm erhalten die Arbeiter*innen bei Armstrong beispielsweise Trainingsangebote und Schulungen zum Thema Arbeitsrecht.

Die Unterbringung der Arbeiter*innen bekommen wir bei unserem Besuch nur im Vorbeigehen zu Gesicht: Die Zimmer sind einfach, aber aufgeräumt – außer den Stockbetten gibt es kaum Einrichtungsgegenstände. Gleich daneben, unweit der Arbeitsstätte ist die Kantine, ein flaches Betongebäude. Dreimal am Tag bekommen die Beschäftigten hier Essen. Während draußen die Mittagssonne auf den Vorhof prallt, ist es im Innenraum angenehm kühl. Das Mobiliar ist einfach, das Essen, das auf Bananenblättern serviert wird, reichlich. Es gibt Dal, mit verschiedenen traditionellen Dips, zum Nachtisch eine Banane und eine Art Fudge aus süßem Ghee. Wenn er nicht mit seiner Frau zu Hause esse, kommen er jeden Mittag her, erklärt A. Naranayasamy, der Geschäftsführer der Fabrik.

Es tut sich etwas in der Textilindustrie – nicht nur beim Essen

Dass selbst der CEO von Armstrong Spinning Mills regelmäßig in der Kantine isst, ist ein Indiz dafür, dass sich etwas tut in der Textilindustrie. Dieses Gefühl nehme ich zumindest an vielen Stellen unserer Reise mit. Die Fabriken, die wir besuchen, scheinen auf einem guten Weg zu sein. Im Rahmen des Fairtrade-Textilprogramms setzen sie bereits Schulungen zu unterschiedlichen Themen um, gestalten ihre Arbeitsstätten sicherer und binden ihre Mitarbeiter*innen stärker in Entscheidungsprozesse ein. Viele von ihnen könnten ohne große Anstrengungen den nächsten Schritt gehen und eine komplette Zertifizierung nach dem Fairtrade-Textilstandard anstreben. Und doch tun sie es nicht. Wieso? „Viele zögern. Nicht, weil der Standard zu anspruchsvoll ist, sondern weil die Nachfrage fehlt und sie nicht bereit sind, die Kosten allein zu tragen“, sagt Shivaprasad Shetty, Fairtrade-Berater in Indien. „Erst wenn Markenhersteller signalisieren, dass sie höhere Löhne mittragen, werden sich die Fabriken für eine Zertifizierung öffnen“, so Shetty.

Was ernüchternd klingt, ist in meinen Augen ein erster Fortschritt. Immerhin hat sich in vielen Fabriken in den vergangenen Jahren etwas getan. Selbst der nächste Schritt – eine Zertifizierung und die damit verbundenen besseren Löhne – wäre denkbar, würden alle Akteure an einem Strang ziehen. Der Wandel in der Textilindustrie scheitert aktuell also nicht etwa an der Umsetzung, sondern am Willen der Textilunternehmen. Und um den zu ändern, müssen wir in Deutschland vielleicht einfach noch mehr Druck machen – als NGO wie Fairtrade, aber genauso als Verbraucher*innen.