Verzweifelte Menschen auf den Straßen, die auf Sauerstoff warten, ein Stau von Krankenwagen vor den Kliniken – diese Bilder aus Indiens Hauptstadt Neu-Delhi gingen im Frühjahr um die Welt. Sie wurden zum Symbol für die ungebremste Wucht der Corona-Pandemie, für die Machtlosigkeit und die Überlastung der Gesundheitssysteme. Wie geht es den Menschen ein halbes Jahr später? Gemeinsam mit meinem Kollegen Rapha Breyer bin ich nach Indien gereist, um genau das zu erfahren.

Mehr als 400.000 Neuinfektionen an einem Tag verzeichnete Indien noch im Mai. Nicht einmal vier Monate später hat sich das Infektionsgeschehen deutlich beruhigt. So deutlich, dass die indische Regierung wieder Ausländer*innen ins Land lässt, wenn auch ausschließlich für berufliche Zwecke. Für meinen Kollegen Rapha Breyer, der die Textilarbeit bei Fairtrade koordiniert, und mich der richtige Zeitpunkt, uns nach fast zwei Jahren Pandemie selbst ein Bild zu machen. Seit Monaten beobachten wir die Lage vor Ort, lesen die Schlagzeilen über Indiens Corona-Hölle und verlassen uns auf Berichte unserer lokalen Partner*innen. Mit der Reise wollen wir den persönlichen Kontakt zu den Textilfabriken pflegen, erfahren, wie es den Menschen vor Ort ergangen ist und vor allem, wie und wo Fairtrade in Zukunft noch stärker unterstützen kann.

Fabrikschornsteine rauchen längst wieder

Von Frankfurt aus geht es Anfang September über Katar nach Bangalore (Karnataka), weiter nach Madurai (Tamil Nadu) und von dort über Coimbatore nach Mumbai (Maharashtra). So skeptisch ich im Vorfeld auch war, so überraschter bin ich plötzlich darüber, dass eine solche Reise inmitten einer Pandemie doch möglich ist, wenn auch mit einigen Einschränkungen; Im Flieger herrscht FFP2-Maskenpflicht, in Indien müssen wir dazu ein Plastikschild vor das Gesicht ziehen, überall stehen Desinfektionsmittel, Menschen tragen selbst im Freien Masken und an einigen öffentlichen Plätzen wie Malls oder Restaurants wird die Körpertemperatur gemessen, bevor man eintreten darf. Corona ist überall präsent und doch herrscht eine gewisse Normalität, ja sogar Zuversicht in vielen Teilen Indiens. Die Fabrikschornsteine rauchen längst wieder, die Menschen sind zurück an ihren Arbeitsplätzen – Impfung und Hygienemaßnahmen sei Dank.

„Die zweite Welle hat uns alle hart getroffen“

Es habe etwas gedauert, aber mittlerweile seien fast alle Beschäftigten zurück in den Fabriken, wie Ganesh Anantharaman, Gründer des Fairtrade-zertifizierten Textilunternehmens SAGS Apparels, während unseres Besuches erzählt. Das sah zeitweise anders aus: „Im Mai war die Situation dramatisch. Am Fenster fuhr ein Krankenwagen nach dem anderen vorbei. Jede Stunde mindestens einer. Die zweite Welle hat uns alle hart getroffen, nicht nur die Älteren. Viele Angestellte haben Freunde oder Familienangehörige verloren – ein Arbeitsalltag war zeitweise nicht mehr denkbar“, so Anantharaman. Die Textilfabrik grenzt unmittelbar an Tiruppurs wichtigste Hauptstraße, die Lebensader der seit Jahren wachsenden Textilhochburg im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu. Vor der zweiten Welle haben sich laut dem Unternehmer nur wenige Menschen impfen lassen. Nach der zweiten Welle änderten viele ihre Meinung und fragten explizit nach einer Impfung. „Auch weil es keine andere Option gibt“, so Antharaman. Längst nicht alle Inder*innen seien jedoch überzeugt. Dafür sei das Land viel zu divers, warnt Armit Narke, CEO von Purecotz. Die Textilfabrik liegt in Umargam, im westlichsten Bundesstaat Indiens und ist ebenfalls Fairtrade-zertifiziert. Hier werden unter anderem Kleidungsstücke für das Kasseler Fair Fashion Unternehmen Melawear gefertigt.

Einkommen vs. Ansteckungsrisiko

Bei einem Rundgang durch die Fabrik treffe ich Sona Rajesh Rathod. Die 42-Jährige arbeitet seit über 15 Jahren bei Purecotz. Corona war für die Alleinverdienerin und Mutter dreier Kinder hart: „Mein Mann hat keinen festen Job, nur kurzzeitige Arbeitsverträge. Er ist launisch, arbeitet hier und dort vielleicht für sechs Monate, länger nicht. Der Unterhalt der Familie hängt allein an mir.“ Wie Sona ging es vielen Arbeiter*innen in der Pandemie: Oft war die Sorge vor dem Verlust des Einkommens größer als die vor einer möglichen Ansteckung.

Sona Rajesh Rathod arbeitet seit über 15 Jahren beim Textilhersteller Purecotz.

 

Ein weiter Weg, nicht nur aus der Pandemie

Obwohl Sona nicht die einzige Arbeiterin ist, mit der ich während unserer Reise spreche, bleibt mir unser Gespräch nachhaltig im Kopf. Vielleicht, weil mich ihre Offenheit beeindruckt und ich das Gefühl habe, einen Einblick in ihr Leben und das ihrer Kinder, Nehal and Nikki und Vinit zu bekommen. Vielleicht auch, weil es mich erschreckt, was für ein weiter Weg noch vor uns liegt, wenn es um Gleichberechtigung der Geschlechter geht. Denn als ich Sona frage, was sie sich etwa von Fairtrade verspricht, ist die Antwort zwar nachvollziehbar, für mich als Frau allerdings ernüchternd: Ein besseres Einkommen, um ihrem Sohn ein Studium ermöglichen zu können. Die Zwillingstöchter sollen dagegen verheiratet werden – denn Frauen mit einem zu hohen Abschluss finden keinen Mann.

Fortsetzung folgt in Teil II.