Ein Jahr nach dem Lockdown ist Indiens Textilindustrie auf dem Weg zurück zur Normalität. In vielen Fabriken laufen die Nähmaschinen beinahe auf Vor-Corona-Niveau. Doch eine Rückkehr zur Normalität bedeutet gleichzeitig eine Rückkehr zu geringen Löhnen, horrenden Überstunden und fehlenden Sicherheitsstandards. Sollte das das Ziel sein?

Vor einem Jahr, am Abend des 23. März 2020, verkündete Indiens Premierminister Narendra Modi einen harten Lockdown samt Ausgangssperre für das Land. Nur wenige Stunden später kam das Leben in Indien für fast zwei Monate zum Erliegen: kein Industrieschornstein rauchte mehr, kein Bus fuhr. Wochenlang standen die Nähmaschinen in Indiens Textilfabriken still. „Die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren oder nicht bezahlt zu werden und die Sorge vor einer möglichen Ansteckung waren zu Beginn der Pandemie riesig“, erklärt Sethulakshmy Chakkenchath, Fairtrade-Beraterin für Arbeitsrechte in Indien. „Gerade Wanderarbeiter hatten es schwer. Überall in den Medien wurde darüber berichtet, wie sie Hunderte von Kilometern zurück in ihre Heimatstädte liefen, weil der Transportsektor stillstand“, so Chakkenchath.

Ein zweiter Lockdown ist keine Option

Ein Jahr später ist von dieser Panik nicht mehr viel zu spüren; obwohl die Fallzahlen in Indien nach wie vor hoch sind. In absoluten Zahlen verzeichnen nur die USA mehr Neuinfektionen pro Tag. Dennoch sind die Fälle deutlich geringer als noch vor einigen Monaten. Die Menschen in Indien seien optimistisch, so Amit Das vom asiatischen Fairtrade-Produzentennetzwerk NAPP. Das liege vor allem an den Impfdosen, die nun verteilt würden. Vielleicht liegt es aber auch daran, dass sich wichtige Wirtschaftszweige wie die Textilindustrie langsam vom einschneidenden Lockdown erholen. Viele Fabriken haben beinahe ihr altes Produktionsniveau erreicht. Selbst Wanderarbeiter*innen kehren nach und nach an die Nähmaschinen zurück.

Die meisten Arbeiter*innen haben allerdings auch keine andere Wahl: Die Auswirkungen des Lockdowns waren verheerend. Zwischen April und Dezember war Indiens Wirtschaftsleistung um 24 Prozent eingebrochen. Unzählige Arbeiter*innen verloren ihre Anstellung. Einen zweiten Lockdown könnte sich weder Indiens Wirtschaft noch der Großteil der Arbeiter*innen leisten, so viel steht fest. Die Rückkehr zur Normalität scheint damit die einzige Möglichkeit aus der Krise. 

Arbeiterin in einer Textilfabrik.

„Beschwerdemechanismen spielen eine Schlüsselrolle“

Um inmitten der Pandemie ein sicheres Arbeiten zu ermöglichen, sind Maßnahmen wie das Tragen von Masken, Desinfektionsmittel und Abstandsregeln in den Fabriken ein Muss. Damit alle Beschäftigten die Hygienemaßnahmen nachvollziehen können und besser verstehen, wie sich Covid-19 verbreitet, bietet Fairtrade gemeinsam mit einem Arzt des öffentlichen Gesundheitswesens eine digitale Corona-Sprechstunde für Textilarbeiter*innen an. Die Online-Beratung soll Panikmache verhindern und die Arbeiter*innen über Risiken aufklären. Für einen reibungslosen Arbeitsablauf spielen zudem Beschwerdemechanismen eine Schlüsselrolle, wie Sethulakshmy Chakkenchath erklärt. „Beispielsweise muss sichergestellt werden, dass alle Beschäftigten die Corona-bedingten Schutzmaßnahmen erfüllen, aber auch, dass sie ihren Lohn erhalten. Viele Wanderarbeiterinnen und Wanderarbeiter sind zu Beginn des Lockdowns in ihre Heimatprovinzen geflohen. Diejenigen, die nun zur Arbeit zurückkehren, müssen zunächst getestet werden. Auch die Einhaltung von Quarantäneregeln muss überprüft werden. Dafür braucht es gut geschulte Arbeiterausschüsse und andere Beschwerdemechanismen.“

Dr. Bobby Joseph, Arzt im öffentlichen Gesundheitswesen bei der Arbeit.

Der Fairtrade Textilstandard – der umfangreichste am Markt 

Fairtrade unterstützt den Aufbau solcher Systeme im Rahmen des Textilstandards. Der 2016 entwickelte Standard ist der strengste und umfangreichsten seiner Art und der einzige Standard am Markt, der existenzsichernde Löhne für alle Beschäftigten entlang der textilen Lieferkette vorschreibt. Dadurch sollen die Beschäftigten nicht nur die Kosten für Wohnen und Lebensmittel decken, sondern auch in Gesundheit und Bildung investieren können. Anders als ein Mindestlohn ermöglicht der existenzsichernde Lohn zudem das Sparen für Notlagen. Mit einem solchen Lohn und besseren Arbeitsverträgen, wie sie Fairtrade fordert, hätten viele Textilarbeiter*innen die Pandemie vermutlich besser überstanden. Auch der Aufbau starker Gewerkschaften spielt eine entscheidende Rolle beim Textilstandard. Denn nur Arbeiter*innen, die ihre Rechte kennen, können diese selbstbewusst einfordern.

Zwei indische Textilfabriken sind bereits nach dem Standard zertifiziert. Weitere Schritte der Lieferkette sollen in Kürze folgen. Doch auch hier hat die Pandemie ihre Spuren hinterlassen: Da zeitweise keine Audits stattfinden konnten, wird es noch etwas dauern, bis die ersten Kleidungsstücke mit dem Textilsiegel im Handel erhältlich sein werden.

Zurück zur Normalität heißt zurück zur Ausbeutung

Dass die Arbeit in den Textilfabriken dank Sicherheitsmaßnahmen und Beschwerdemechanismen wieder aufgenommen werden kann, sind prinzipiell gute Nachrichten. An den grundlegenden Problemen der Branche ändert sich dadurch allerdings nichts. Denn eine Rückkehr zur Normalität bedeutet auch eine Rückkehr zu viel zu geringen Löhnen, horrenden Überstunden, fehlenden Sicherheitsstandards oder Arbeitsverträgen. Für die Textilarbeiter*innen ist das dennoch besser als ein neuer Lockdown – zumindest für den Moment.

Mehr dazu, was es für einen fairen Neustart braucht und welche Impulse gesetzt werden müssen, damit die Textilindustrie, nicht nur in Indien, nachhaltiger und fairer wird, erfahrt ihr unter: www.fairtrade-deutschland.de/fashionrevolution

Mehr zur allgemeinen Situation in Indien ein Jahr nach dem Lockdown unter: www.fairtrade-deutschland.de/service/newsroom/news